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Filmtext

Im Schatten des Bruders

Ein undeutlicher Blick in den Spiegel eröffnet den auf wahren Begebenheiten basierenden Film „Ein Geheimnis“ (Un secret), der eine Geschichte über Begehren und Schuld zur Zeit der deutschen Besatzung in Frankreich während des 2. Weltkrieges erzählt. Der renommierte französische Regisseur Claude Miller hat dafür den gleichnamigen Roman seines Landsmannes, des Psychoanalytikers und Schriftstellers Philippe Grimbert adaptiert, der darin seine eigene Familiengeschichte verarbeitet. Den dialoglosen, anarchischen Erinnerungsfluss der literarischen Vorlage übersetzt Miller ins filmische Medium, indem er aus der Retrospektive des Ich-Erzählers mehrere Zeitebenen komplex miteinander verschachtelt und diese farbdramaturgisch voneinander absetzt, wobei er in Umkehrung der Konvention für die erzählte Gegenwart des Jahres 1985 Schwarzweiß wählt. Die Suche nach der eigenen Identität im Spiegel einer komplizierten jüdischen Familiengeschichte enthüllt schließlich eine verschwiegene Erzählung über Liebe, Begehren und Eifersucht, die sich auf tragische Weise mit den Wirren der Zeit verbindet.



Im Sommer 1955 ist der Erzähler François (der als Erwachsener von Mathieu Amalric gespielt wird) sieben Jahre alt. Untergewichtig seit seiner Geburt, wirkt das Einzelkind schmächtig und schwach. Vor allem der Kontrast zu seiner Umgebung, den Körperbildern im sportlichen Treiben eines Schwimmbades, verstärkt diesen Eindruck. In erster Linie sind es aber François‘ strahlend schöne, körperlich dominanten Eltern, die den Komplex des Jungen zementieren. Während seine Mutter Tania (Cécile De France), die als Mannequin und Modezeichnerin arbeitet, als elegante Schwimmerin glänzt, wird er von seinem sportlich-vitalen Vater Maxime (Patrick Bruel) beharrlich zu athletischen Übungen animiert. Doch der kleine François ist überfordert. Er fühlt sich ungeliebt und kann die Erwartungen seines Vaters nicht erfüllen. Nachts leidet er unter Alpträumen, während tagsüber seine Phantasie einen sportlich erfolgreichen „Phantombruder“ erfindet, in dessen Schatten sich François flüchtet.



Jahre früher, während der deutschen Besatzung, sagt der Jude Maxime, die Verordnung, ein Judenstern zu tragen, sei „ein Gesetz für Schwächlinge“. Seine Verteidigung körperlicher Stärke und Schönheit trifft sich hier paradoxerweise mit dem kultisch verehrten Körperideal der nationalsozialistischen Besatzungsmacht. Claude Miller, selbst Jude, thematisiert hier das schwierige Verhältnis zwischen weltlichem und traditionellem Judentum. So wird beispielsweise der beschnittene François später christlich getauft. Gravierender ist jedoch die tabuisierte Liebesgeschichte, die der Junge als 15-Jähriger von seiner Nachbarin Louise (Julie Depardieu), einer Bewegungstherapeutin, erfährt und die zum titelgebenden Familiengeheimnis des Films führt. Denn tatsächlich hatte François einen Bruder, der aus der ersten Ehe seines Vaters mit der Jüdin Hannah (Ludivine Sagnier) stammte. Wie sich in dieser Ehe die Eifersucht mit einer schließlich auf schreckliche Weise tödlichen Konsequenz einnistet und ausbreitet, dramatisiert Miller als fatales Begehren der Blicke und Körper. Die verhängnisvolle, sich in Schuld verstrickende Leidenschaft beschreibt hier auf irritierende Weise eine auch inszenierte Normalität des Lebens, die sich ganz selbstverständlich und mit brutaler Natürlichkeit in einem Raum jenseits traditioneller Werte und inmitten einer furchtbaren Geschichte entfaltet. 





19. Dezember 2008

 


Wolfgang Nierlin

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